Blick ins Hirn

Nov 11th, 2009 | By | Category: Rede und Antwort, Sein und Werden

Gerhard_Roth_TextMan muss nicht hochbegabt sein, um mit Erfolg zu studieren, sagt der Hirnforscher und Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes, Professor Gerhard Roth. Ein Gespräch über Intuition und Emotion – und was beides mit dem Lernen zu tun hat.

Herr Professor Roth, auch wenn der eine oder andere jetzt sein Selbstbild vom sachlich abwägenden Naturwissenschaftler in Frage gestellt sieht: Bei der Entscheidung für ein bestimmtes Studienfach sind jede Menge Emotionen im Spiel – oder?
Sicher. Das ist bei allen Entscheidungen so. Kein Mensch lässt sich rein rational leiten.

Sie klingen gerade so, als wollten Sie noch „Und das ist auch gut so“ hinterher schieben…
Da muss man zwei wichtige Dinge unterscheiden. Mit einer rein affektiven Entscheidung, wie sie unter Zeitdruck getroffen wird, liegt man häufig falsch. Wir reden hier von einer emotional-intuitiven Entscheidung. Die ist nicht wirklich logisch-rational, aber eben auch keine reine Bauchentscheidung. Sie ist lange gereift. Diese Intuition ist etwas, was man bisher wenig verstanden hat, was aber jetzt zunehmend ins Interesse der Forschung rückt. Intuitionen sind ein Gemisch von Gefühlen und ganz stark kondensierter Erfahrung. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass die aufgeschobene intuitive Entscheidung die beste ist.

Gehen wir also einmal davon aus, dass sich jemand – auch – aus Leidenschaft für ein naturwissenschaftliches Studium entschieden hat: Ist Leidenschaft eine gute Voraussetzung für Lernerfolg?
Neben Intelligenz ist das die wichtigste. Der spätere Berufserfolg hängt von drei Faktoren ab. Nämlich von Intelligenz beziehungsweise Begabung, von Motivation und von Fleiß. Das ist so trivial wie es richtig ist. Intelligenz ist also nur einer von drei Faktoren. Man kann ein leichtes Minus an Intelligenz durch Fleiß und Motivation ausgleichen. Man muss nicht immer hochbegabt und hochintelligent sein. Leidenschaft ist die stärkste motivationale Antriebskraft. Wenn jemand aus Leidenschaft etwas studieren will, lässt er sich durch nichts und niemanden davon abbringen. Wenn keine Emotionen im Spiel sind, wird es schwierig. Dann kommt die zweite, dritte und vierte Disziplin und man studiert so lust- wie erfolglos vor sich hin.

Was passiert beim Lernen aus neurowissenschaftlicher Perspektive?
Beim Lernen verändern sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Ganz am Anfang haben wir etwa doppelt bis viermal so viele Verbindungen. Die werden dann über 20 Jahre hinweg abgebaut. Das passiert in der frühen Kindheit sehr schnell. Das Gehirn verdrahtet sich am Anfang relativ wahllos, dann immer zielgerichteter. Alles wird weggelassen, was nicht benutzt wird. Es verarmt also – aber im guten Sinne. Wie bei einem Obstbaum, bei dem man Äste zurückschneidet, damit er besser tragen kann.

Aber irgendwann steht das Profil und man erkennt, wie der Baum grundsätzlich wachsen wird. Bei guter Pflege trägt er beständig Früchte…
Richtig. Beim schulischen Lernen geht es um die Verstärkung oder Abschwächung der vorhandenen Kontakte. Das kann man sich als ein kompliziertes System von Wasserschläuchen vorstellen, die durch Ventile miteinander verbunden sind. Man kann jetzt die Ventile aufdrehen oder zudrehen, stärker oder schwächer öffnen und dadurch fließt der Erregungsstrom – sprich das Wasser – auf anderen Wegen durch das Netzwerk als vorher. In unserem Gehirn ändert sich das im Sekundentakt. Ständig werden Milliarden oder Millionen von Synapsen – also Zellkontakten – gestärkt oder abgeschwächt oder bleiben gleich. Das ist das Substrat von Lernen.

Und der Lerneffekt hängt dann davon ab, welches Ventil ich wie lange und wie stark öffne?
Wenn Sie so wollen. Flexible Ventile, die immer nur vorübergehend auf- und zugedreht werden, sind demnach kennzeichnend für das Kurzzeitgedächtnis. Das hält nur ein paar Minuten an. Beim Langzeitgedächtnis werden bestimmte Ventile langfristig auf- und andere zugedreht. Das Ventil rostet sozusagen in dieser Stellung ein und kann, wenn überhaupt, nur sehr schwer bewegt werden. Der Übergang vom Kurzzeit- zum Langzeitgedächtnis ist ein ungeheurer Selektionsprozess, eine extreme Konzentration auf das Wesentliche.

Also genau das, was Absolventen brauchen, um das Examen zu meistern…
Und das werden sie auch. Das Wichtigste beim Lernen sind Aufmerksamkeit und Interesse. Interesse aktiviert einen Kontext in meinem Gehirn vor. Da passt das, was ich neu erfahre, genau hinein.

Nun ist man aber nicht an allen Dingen so brennend interessiert, die in der Prüfungsordnung stehen.
Ja. Man muss sich leider manchmal furchtbar zum Lernen zwingen. Im Gegensatz zum Interesse kann ich die Aufmerksamkeit aber willentlich befördern, indem ich zum Beispiel eine Atmosphäre schaffe, in der ich konzentriert arbeiten kann. Und noch zwei andere Faktoren sind wichtig. Zum einen das bereits vorhandene Wissen. Je mehr ich über eine Sache schon weiß, desto besser kann ich neues Wissen zu diesem Thema aufnehmen. Der vierte große Faktor ist die Vertrauenswürdigkeit der Quelle, aus der ich meine Informationen bekomme. Wenn da eine Lusche vor mir steht, traut mein Gehirn den Informationen nicht.

Zum Schluss noch eine ganz andere Frage: Welche Voraussetzung muss man mitbringen, um Neurowissenschaftler zu werden?
Neben Grundtugenden wie Fleiß und Ausdauer sollte man Expertenwissen in einem relevanten Fach mitbringen. Ob das nun Physik, Medizin, Biologie, Philosophie oder Linguistik ist, spielt keine Rolle. Für alles andere braucht man nur Begeisterung.

Eva Stern | Karriereführer Hochschulen Naturwissenschaften 09/10

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