Totale Vernetzung

Nov 11th, 2009 | By | Category: Sein und Werden, Was bisher geschah

Schädel_TextFünf Buchstaben verändern die Welt. Die Vorsilbe „neuro“ verbreitete ihren Glanz zuerst in Laboren und Studierstuben: Aus Biologen wurden Neurobiologen, aus Pädagogen Neuropädagogen, aus Informatikern Neuroinformatiker. Der Hype „die Nerven betreffend“ macht auch vor Chemikern, Linguisten, Philosophen, Physikern oder Ökonomen nicht Halt. Dann der Ritterschlag im Feuilleton: Spätestens mit der Diskussion um den freien Willen eroberten neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Fragestellungen die Welt jenseits der Universitäten.

Doch was steckt eigentlich drin, wo „neuro“ draufsteht? Eines ist klar, ein Fach, das sich mit dem Aufbau und der Funktionsweise von Nervensystemen befasst, kann nur interdisziplinär angelegt sein. Wie ließen sich Struktur und Funktion von Nervensystemen anders erforschen als mit Hilfe biologischer, chemischer, physikalischer, medizinischer und psychologischer Fragestellungen, Methoden und Arbeitstechniken? Ein neurowissenschaftliches Studium ist ein interdisziplinäres Studium par excellence.

Was passiert im Gehirn dementer Menschen? Wie denken und fühlen Autisten? Wie regeneriert sich das Gehirn nach einem Schlaganfall? Wie lernen Kinder? Solcherart Fragen implizieren nicht nur einen Forschungs-, sondern auch einen Handlungsauftrag. Sie verlangen nicht nur fundierte Antworten, sondern auch deren Weiterführung in praktische Anwendungen: Medikamente und medizinische Hilfsmittel, Therapieansätze, Lehrpläne. Und ja – auch in der ausgefeilten Ladeneinrichtung, der passgenauen Werbung oder dem perfekten Produktdesign steckt jede Menge „neuro“ drin: Neuromarketing.

Es waren zwei Entwicklungen, die den Neurowissenschaften in den vergangenen Jahren solchen Auftrieb verliehen haben: einerseits die Entwicklung moderner bildgebender Verfahren. Man kann so sichtbar machen, wie verschiedene Hirnareale zusammenspielen, zum Beispiel beim Sprachverstehen oder der Verarbeitung von Musik. Andererseits gab es auch enorme Fortschritte bei der Erforschung der untersten neuronalen Organisationsebene – den einzelnen Zellen und Molekülen. „Wir verstehen inzwischen also ganz gut, was auf der oberen und der unteren Ebene passiert. Das große Rätsel ist das dazwischen. Wie das Gehirn als Netzwerk arbeitet, ist weitgehend unverstanden. Das geht bis hin zu der Frage, wie Psychopharmaka wirken oder was bei einer Psychotherapie abläuft im Gehirn, warum das bei dem einem klappt und beim anderen nicht“, sagt der renommierte Hirnforscher Gerhard Roth.

Der Forschungsbedarf ist groß – und auch die Angebote für Studierende und Absolventen mit Interesse an neurowissenschaftlichen Fragestellungen nehmen zu. Es gibt Graduierten-Programme, Förderprogramme, Sonderforschungsbereiche, Bachelor- und Master-Studiengänge. Gelangte man früher nur auf dem Umweg über verwandte Wissenschaftsbereiche wie Biologie oder Medizin zur Neurowissenschaft, so kann man heute Neurowissenschaften als eigenständiges Fach studieren. Zum Beispiel an der Universität Köln. Mit einer häufigen Fehleinschätzung vor Studienbeginn räumt der Referent des Studiengangs Neurowissenschaften, Samir Delonge, jedoch auf: „Viele Studieninteressenten denken erstmal nur ans Gehirn und nicht an das Nervensystem in seiner Gesamtheit. Die Komplexität des Nervengewebes und neuronaler Prozesse generell wird dabei unterschätzt“, betont Delonge. Ein großes Plus in Köln sei die Verbindung zur medizinischen Fakultät. So sehen die Studenten die Krankheitsbilder am Patienten – und nicht nur im Lehrbuch. „Allerdings geschieht dies mit dem Ziel, diese Erkenntnisse in Forschungsfragen einzugliedern.“ Wer sich in Köln das theoretische und praktische Rüstzeug eines Neurowissenschaftlers angeeignet hat, kann sich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Industrie oder an den Forschungseinrichtungen der Universitäten bewerben. „Durch den starken Zuwachs biomedizinscher Forschung in Universitäten und Industrie besteht generell ein steigender Bedarf an Mitarbeitern mit entsprechendem theoretischen und praktischen neurowissenschaftlichen Hintergrund“, sagt Delonge. Die meisten Bachelorabsolventen strebten allerdings ein Masterstudium an, um Ihr Wissen weiter zu vertiefen. „Und von denen wiederum promovieren die meisten.“

Zum interdisziplinären Fäckerkanon, der für die Neurowissenschaften relevant ist, zählen nicht nur die klassischen naturwissenschaftlichen Fächer, sondern auch die Geisteswissenschaften. Der an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg angebotene Bachelor-Studiengang Philosophie-Neurowissenschaften-Kognition (PNK) zäumt das Pferd von eben dieser Seite auf: „Das Ziel von PNK besteht darin, naturwissenschaftlich informierte Geisteswissenschaftler auszubilden – und nicht geisteswissenschaftlich informierte Naturwissenschaftler“, sagt Studienberater Wolfgang Barz. Entsprechende Fragestellungen seien zum Beispiel: Welche ethischen und moralischen Konsequenzen würden sich aus der Annahme ergeben, dass der freie Wille eine Illusion ist? Verdient niemand Strafe? Sind alle unschuldig? Sollen wir die Gefängnistore öffnen? „Um solche Fragen kompetent beantworten zu können, müssen Philosophen wissen, was genau Neurowissenschaftler mittlerweile alles über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns herausgefunden haben“, erklärt Barz. Als nüchterne Sacharbeit, die der Wahrheit verpflichtet ist, sieht er die Philosophie. „Wir sollten damit aufhören, hochgestochenes und verblasenes Zeug zu reden, das ohnehin nur Eingeweihte verstehen können.“ Wer den Drang zu solcher Denkarbeit verspürt, der sollte intellektuelle Neugier, geistige Beweglichkeit, Hartnäckigkeit, Eigensinn, Kritikfähigkeit und Freude am Diskutieren und Schreiben mitbringen. Berufliche Einsatzfelder für PNK-Absolventensieht Barz im Verlags- und Pressewesen, in Medieninstitutionen, insbesondere in der Wissenschaftspublizistik, bei Stiftungen und im Marketing-Bereich.

Eva Stern | Karriereführer Hochschulen Naturwissenschaften 09/10 | Foto: Dieter Schütz www.pixelio.de

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