Was lange währt, wird auch nicht gut

Nov 11th, 2009 | By | Category: Sein und Werden

Eines muss man den Zauderern dieser Welt lassen: Sie erzählen einfach die besseren Geschichten. Vom Deadline-Kick und dem Kreativitätsrausch in der letzten Minute zum Beispiel. Die Schattenseiten des Aufschieber-Lebens werden dabei gerne verschwiegen.

Aufregend sind sie – die Kriegsberichte von der Aufschieberfront. Wie da mit einer großen Charmeoffensive der Professor so lange umgarnt wird, bis er den Abgabetermin für die Hausarbeit ein drittes Mal verlängert. Und wie eben jene Hausarbeit dann aber wirklich auf den allerletzten Drücker im Posteingang landet, nachdem man den HiWi an der Pforte bestochen hat. So ist das mit den Berichten von der Front: Es sind Heldengeschichten.

Um die Schäden kümmern sich andere. Der Psychologe und Psychoanalytiker Hans-Werner Rückert zum Beispiel. Als Leiter der „Zentraleinrichtung Studienberatung und psychologische Beratung“ an der Freien Universität Berlin hat er schon etlichen Aufschiebern hinter die Heldenmaske geschaut und die Verletzungen gesehen: die Selbstzweifel, die Scham, die Schuldgefühle, die Angst, das schwindende Selbstwertgefühl.

Aufschieber leiden und sie müssen hart an sich arbeiten, wenn sie ihr Vertagungs-Verhalten in den Griff bekommen wollen. Deshalb hat Rückert auch so seine Probleme mit dem Begriff „Aufschieberitis“. „Bei der Endung ,-itis’ denkt man immer an eine Entzündung. Und das legt nahe, dass man das Aufschieben genau wie eine Entzündung mit Medikamenten einfach heilen könnte. Das geht aber leider nicht.“

Das ewige Vor-sich-Herschieben kann man bedeutungsschwanger auch „Prokrastination“ nennen. Das raubt dem tagtäglichen „Aufschieben“ seinen banalen Charakter und lässt es schwer nach Krankheit klingen. Aber wann wird Aufschieben wirklich pathologisch? Aufschieben an sich ist ja nicht immer eine schlechte Option. „Auf jeden Impuls hin sofort loszukacheln, ist nicht produktiv. Zu wissen, wann und wie ich am wirksamsten handeln kann – das ist die wahre Lebenskunst und das A und O der Geschichte“, sagt Studienberater Rückert. Abwarten und Tee trinken ist durchaus erlaubt und bisweilen vorteilhaft. Nur sollte man eben irgendwann zur Tat schreiten. „Erlediger“ passen diesen Zeitpunkt ab, Aufschieber verpassen ihn.

„Aufschieber tun nicht das, was ansteht und von ihnen selbst auch ganz klar als vorrangige Aufgabe bestimmt wurde, sondern sie tun stattdessen irgendetwas anderes“, erklärt Rückert. Dabei ist Aufschieber nicht gleich Aufschieber. Sogenannte Erregungsaufschieber brauchen den Nervenkitzel, um in die Gänge zu kommen. Besser gesagt: Sie glauben, ohne den Kick der allerletzten Minute gar keine Höchstleistungen vollbringen zu können und lassen es sich einstweilen auf der sprichwörtlichen langen Bank gut gehen. Wie in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung kennen die Erregungsaufschieber dann wirklich nur noch den Hochdruck- und den Chill-Modus. Ein Leben in schwarz und weiß. Das Grau bleibt den Langweilern vorbehalten. Unter dem Lifestyle-Deckmäntelchen tarnt sich diese Macke ganz modisch als „Entschleunigung“ und wird bevorzugt von vermeintlich besonders kreativen Menschen gerne und oft bemüht. Das Gegengift: Einmal den Rausch spüren, wenn eine Aufgabe ganz selbstbestimmt, pünktlich und gut erledigt ist.

Für Vermeidungsaufschieber wird die lange Bank zur Ersatzbank. Sie warten nicht auf den Motivationskick. Sie sitzen nur dort, weil das Erledigen der selbst gewählten(!) Aufgabe für sie noch unangenehmer wäre. Statt Referate vorzubereiten und Hausarbeiten zu schreiben checken sie minütlich ihre Mails, backen Kuchen, putzen den WG-Kühlschrank oder verzetteln sich im Internet. Sie vermeiden so die Konfrontation mit negativen Gefühlen. Angst vor Misserfolg etwa oder das Eingeständnis, der Aufgabe in Wirklichkeit gar nicht gewachsen zu sein. „Es sind oft sehr stark konflikthafte Gründe, die hinter dem Aufschiebeverhalten stecken“, sagt Rückert. Deshalb seien neben all jenen Menschen, die einfach nur nicht wissen, wie gekonntes Erledigen funktioniert, vor allem Perfektionisten, Selbstüberschätzer oder zwanghafte Menschen fürs Aufschieben prädestiniert. Rückerts Empfehlung: Selbstakzeptanz statt Schuldgefühle und Selbsterkenntnis statt Verdrängung. Was sind meine wahren Ziele? Warum schiebe ich auf? Wovor habe ich Angst? Wann hat das begonnen? Ist es vielleicht besser, kleinere Brötchen zu backen? Vielen Betroffenen weist diese Reflexion bereits einen Weg raus aus ihrem Aufschieber-Dasein – und mit den richtigen Arbeitstechniken bleiben sie auch dauerhaft auf der Erledigerspur. Denn die gute Nachricht lautet: Aufgabenbewältigung ist lernbar. Dazu gehört vor allem das Setzen von Prioritäten, sagt der Motivationstrainer und Coach Dr. Stefan Frädrich.

Neu ist das Aufschiebe-Phänomen an deutschen Universitäten und Hochschulen natürlich nicht. Doch während amerikanische Studenten ihr Problembewusstsein schon vor Jahrzehnten mit „I’m a Procrastinator“-T-Shirts zur Schau stellten, ließ es sich hierzulande lange recht komfortabel prokrastinieren. Keine Anwesenheitspflicht, kein fester Stundenplan, vergleichsweise geringer finanzieller Druck: Aufschieben gehörte da fast schon zum guten Ton. Aber seit Einführung von Studiengebühren, der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge mit klar definierten Leistungsanforderungen und der ständigen Jagd nach Drittmitteln wächst der Problemdruck. „Die hohe Verbindlichkeit setzt sowohl den einzelnen Studenten als auch die Institution Universität unter enormen Druck“, hat Rückert beobachtet. „Während aber die angelsächsischen Universitäten ein entsprechend ausgebautes und relativ breites Unterstützungssystem haben, bilden wir uns ein, die neuen Studienbedingungen mit weniger Personal zu meistern. Das kann nicht gut gehen“, gibt der Studienberater zu bedenken.

Eva Stern | Karriereführer Hochschulen Wintersemester 09/10

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© Eva Stern